„Apothekensektor hat Handlungsfähigkeit bewiesen“
Beim E-Rezept sieht Christian Krüger, Geschäftsführer der NGDA (Netzgesellschaft Deutscher Apotheker mbH, Eschborn), die Apotheken in einer handlungsfähigen Position – und Softwarehäuser sowie Rechenzentren in Schlüsselrollen.
Muster 16: Herr Krüger, über die NGDA, die eine 100-prozentige Tochter der Avoxa ist, gestaltet die Apothekerschaft den Prozess des E-Rezepts mit. Was war der Grund, dass sich unser Berufsstand engagiert hat und wie sieht dieses Engagement konkret aus?
Christian Krüger: „Schon als die Ärzte im Jahr 2018 die Telemedizin in ihre Berufsordnung aufgenommen haben, war allen Beteiligten im Gesundheitswesen klar: Jetzt ist der Zeitpunkt zu handeln, der Zug in
Richtung E-Rezept läuft. Nun gibt es mehrere Wege, damit umzugehen: Sich vor vollendete Tatsachen stellen zu lassen, auf den Zug aufzuspringen, oder – idealerweise – ins Führerhaus zu kommen, um den Prozess im Sinne unseres Berufsstands mitzugestalten. Da es beim E-Rezept um den essenziellen Kernprozess von Apotheken geht, bin ich froh, dass sich ausgehend von einer Initialzündung durch LAK und LAV Baden-Württemberg über das docdirect-Vorhaben auch die Standesvertretung in Berlin für das Letztere entschieden hat.
Immerhin geht es hier um Kernfragen für öffentliche Apotheken wie: Inwiefern überlassen wir dem Versandhandel das Spielfeld und welche Möglichkeiten haben die Präsenzapotheken, dem aktiv entgegenzutreten?“
Da eine Vielzahl von Modellvorhaben zu erwarten war und jedes Rezept ja auch verlässlich abgerechnet werden muss, haben wir uns vorgenommen, einen Lösungsvorschlag für die gesamte Strecke anzubieten. Ziel war das Entwickeln eines Modells, wie man ‚als Apothekerschaft auf Basis bereits existierender Technologien E-Rezept machen würde‘. Und ferner, dieses als wichtige Grundlage einzubringen, anhand derer man die von der gematik noch zu spezifizierenden Dinge weiter entwickelt.
Um wichtige Praxiserfahrung einzubringen, haben sich zunächst Apothekerschaft, Rechenzentren und Softwarehäuser zusammengetan. Die NGDA hat hierbei neben der Ausgestaltung der technischen Spezifikation auch die Moderatorenrolle im Prozess übernommen. Startpunkt war ein Letter of Intent von ABDA, Rechenzentren und Softwarehäusern zur elektronischen Verordnung. Das erste Arbeitstreffen auf Fachebene fand im August 2018 statt.
Innerhalb von zweieinhalb Monaten stand ein grundlegendes Modell. Schon nach drei Monaten waren wir so weit, dass wir zur weiteren Abstimmung auf die Ärzteschaft zugegangen sind. Dies war notwendig, weil jeder Rezeptprozess in Deutschland beim Arzt beginnt. Im November waren wir das erste Mal im Gesundheitsministerium und haben deutlich gemacht: Wir entwickeln als Apothekerschaft eine Lösung und wir werden im Sommer 2019 das erste E-Rezept in unserem Bereich abwickeln können.
Offen war die Frage, wann die Ärzte für einen Modellversuch am Start sind und ob die Krankenkassen unseren Ansatz für die Abrechnung der entsprechenden Rezepte akzeptieren würden. Das war und ist bis heute eine der großen Stärken des Modells, alle anderen Initiativen haben sich keine oder nur unzureichende Gedanken gemacht, wie der Prozess des E-Rezepts ab der Apotheke in Richtung Abrechnung aussieht. Gemeinsam mit ADAS und VDARZ wurde ein schneller und sicherer Weg spezifiziert, der auch über das Modellprojekt hinaus mittlerweile hohe Zustimmung erfahren hat. Das entstandene Konzept kennen Sie unter dem Namen GERDA. Es ist der übergreifende Vorschlag, wie man mit heute vorhandenen Technologien E-Rezepte sicher verarbeiten kann.
Um die Verträge mit den Kassen hat sich der LAV in Baden-Württemberg unter Berücksichtigung des entwickelten Abrechnungswegs gekümmert. Über 30 Kassen sind diesem Vertrag beigetreten und nachdem auch die ersten Softwareanbieter die Anbindung hergestellt haben und wir im Mai 2019 den Rezeptspeicher aktiv stellen konnten, hatte die Apothekerschaft gemeinsam mit den Industriepartnern Ihren Teil geliefert.
Eine weitere Anerkennung kam direkt vom BMG – das GERDA System kommt seit November 2019 auch in der Zukunftsregion digitale Gesundheit des BMG in Berlin zum Einsatz, hier in Zusammenarbeit mit dem Berliner Apothekerverein.“
Muster 16: Warum ist in Ihren Augen die Zusammenarbeit von Apothekerschaft, Softwarehäusern und Rechenzentren beim E-Rezept so wichtig?
Christian Krüger: „Wir sind davon ausgegangen, dass eine Vielzahl von Initiativen und Modellvorhaben zum E-Rezept entstehen werden. Alle werden nur einen geringen Teil des Marktes bedienen, aber alle werden Aufmerksamkeit im Berufsstand, Programmieraufwand und Abrechnungs-Know-how erfordern. Wenn man als Berufsstand ein eigenes Angebot schafft, dann kann man den Wildwuchs ein wenig eindämmen. Durch Einigung auf Standards wollten wir auch die Möglichkeit schaffen, dass mehr Apotheken an Modellvorhaben teilnehmen können. Immerhin geht es bei den Apotheken ja darum, ihre bewährten Prozesse auch in die digitale Welt zu bringen. So konnten wir einerseits den Aufwand der Softwarehäuser und Rechenzentren etwas minimieren, andererseits natürlich auch mit einem ‚Gesamtangebot‘ vieler Partner eine ganz andere Schlagkraft erreichen.
Dass so eine abgestimmte Vorgehensweise gut funktioniert, haben wir bei securPharm ja schon bewiesen. Auch hier haben die Softwarehäuser Einzelinteressen über Bord geworfen und für die Apotheken – ihre Kunden – in einem Gesamtprojekt gut mit der NGDA zusammengearbeitet. Sonst hätten wir niemals in wenigen Monaten 19.500 Apotheken erfolgreich an das System anschließen können. Das hat gezeigt, dass der Sektor der Apotheken wirtschaftliche Partikularinteressen beiseitelegen kann, um an technologischen Gesamtlösungen zu arbeiten.
Als Apotheker ist mir auch eins sehr wichtig: Unser Berufsstand hatte lange den Ruf, nur Bewahrer von Strukturen zu sein. Aber wir haben in den letzten zwei Jahren bundesweit Beachtliches geleistet. Die Apothekerschaft hat jetzt auch bei technischen Herausforderungen gezeigt, dass sie nicht nur reden und fordern, sondern auch verlässlich umsetzen kann. Das ist die notwendige Grundlage dafür, dass man auch auf fachlicher Ebene mitreden und die kommenden digitalen Prozesse mitgestalten kann! Dies gilt übrigens nicht nur für die Apothekerschaft im engeren Sinne, sondern auch für den gesamten Sektor, wobei den Softwarehäusern und Rechenzentren Schlüsselrollen zukommen. Das ARZ Darmstadt und CIDA leisten einen nennenswerten Beitrag und bringen von Beginn an wichtiges Wissen und Personalressourcen ein. Wir haben bewiesen, dass wir als Apothekensektor handlungsfähig sind.“
Muster 16: Wäre das alles nicht die Aufgabe der gematik?
Christian Krüger: „Die gematik hatte lediglich die Aufgabe, den Weg des E-Rezepts vom Arzt bis zur Apotheke zu spezifizieren – unter Einbeziehung des Patienten und datenschutzrechtlicher Bestimmungen. Es geht also bei der gematik lediglich um die Übergabe der elektronischen Verordnung an die Apotheke, der weiterführende Weg des E-Rezepts von der Apotheke bis zur Abrechnung hingegen muss jedoch ebenfalls geklärt werden und idealerweise genauso verlässlich ablaufen, wie das heute schon der Fall ist. Diese Aufgabe liegt aber in der Abstimmung zwischen Ärzten und GKV-SV für die Verordnung bzw. in der für Apotheken wichtigen Arzneimittelversorgungsvereinbarung zwischen DAV und GKV-SV – und nicht bei der gematik.“
Muster 16: Sind Apotheken ‚digitaler‘ als andere Heilberufe?
Christian Krüger: „Hinsichtlich der technischen Ausstattung sind Apotheken von allen Beteiligten im Gesundheitswesen am weitesten fortgeschritten. Vor allem deshalb, weil Apothekerinnen und Apotheker schon lange die Rollen des Kaufmanns und des Heilberuflers vereinen. Wer eine Apotheke führt, weiß: Ich kann nur erfolgreich sein, wenn auch meine Prozesse optimiert sind. Apotheken geben im Verhältnis zu Arztpraxen ein Mehrfaches für ihre IT aus. Dennoch hat auch die Coronakrise deutlich gemacht: Selbst wir Apotheken sind im Gesundheitswesen nicht so digital, wie wir es sein könnten.“
Muster 16: Kann die Coronakrise den Prozess der elektronischen Verordnung beschleunigen?
Christian Krüger: „Davon gehe ich aus. Es gibt natürlich einen offiziellen Zeitplan, er sieht beispielsweise vor, dass die gematik bis Ende Juni 2020 die Spezifikationen für das E-Rezept vornimmt (s. Abb.).
In der Praxis regiert aber die Macht des Faktischen und zwingt die Beteiligten immer wieder zum Umdenken. Die Digitalisierung hat uns schon vor Corona gezeigt, dass Patienten durch ihr Handeln Fakten schaffen.
Wenn 80 Prozent der Handynutzer eine App nutzen, dann haben wir so ein Faktum. WhatsApp – ob erlaubt oder nicht – wurde im Kontakt mit Apotheken auch für Rezeptübermittlung eingesetzt. Warum? Weil die Patienten es einfach so gemacht haben, bis die Apotheken eigene Lösungen wie z.B. APOJET angeboten haben. Wir sehen zudem deutlich, dass die Coronakrise bei den Bürgern bzw. Patienten ein weiteres Umdenken bewirkt. Es geht derzeit verstärkt um Lösungen für essentielle Bedürfnisse wie Kontaktvermeidung und Gesundheit. Hier bietet die Digitalisierung das Potenzial, die Gesundheit der Patienten besser zu schützen.
Die Coronakrise bietet natürlich Anlass und Motivation, sich noch einmal damit auseinander zu setzen, wie man Digitalisierungsprozesse beschleunigen kann. Videosprechstunden haben erhöhte Aufmerksamkeit erhalten, weil sie zumindest teilweise in Arztpraxen für Entlastung oder Reduktion der Ansteckungsgefahr sorgen können. Aber Videosprechstunden ohne E-Rezepte sind natürlich nur begrenzt nützlich. Datenschutz ist und bleibt ein wichtiges Thema, potenzieller Missbrauch muss aber immer einem möglichen Nutzen gegenübergestellt werden. Menschen sind zur Abwägung bereit, wenn sie den Sinn dahinter verstehen. Dass dabei Einzelinteressen zurückweichen, damit man einen großen Schritt nach vorne macht, halte ich für eine gute Entwicklung.“
Muster 16: Herr Krüger, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Kontakt: Anke Damerau
a.damerau@arz-darmstadt.de